Von blauen Eiskristallen, roten Qualen und bunten Träumen – Lesung mit Oswald Henke Drucken
Geschrieben von: Charly Groß   
Dienstag, den 11. September 2012 um 06:53 Uhr

Lesung_OswaldHenke © Rezianer"Zwischengeist" ist seit dem 1. September auf dem Markt. Nach "Ich habe mir die Liebe abgewöhnt und bin doch weiter süchtig" und "FSK 18 – Tendenziell menschenverachtend" ist nun bereits das fünfte Buch von Oswald Henke erschienen. Seine Lesereise führte ihn über Cottbus, Magdeburg, Berlin und Görlitz nach Leipzig. Am 7. September war er zu Gast im Kulturcafé Knicklicht.


Als Goethes-Erben-Bandgründer Oswald Henke die hölzerne Wendeltreppe im Kulturcafé Knicklicht hinunterschreitet, haben bereits rund 50 Besucher ihre Plätze eingenommen. Bevor die eigentliche Lesung beginnt, werden ein paar Regeln aufgestellt. Die erste lautet: nicht reden, wenn der Mastermind liest. Die zweite hat mit möglichen Stimmungsschwankungen zu tun. Sollte die Lesung zu düster werden, wird mit Showeinlagen die Stimmung ein wenig aufgelockert. Für diese Intermezzi holt sich der Künstler eine junge Leipzigerin auf das Podest. Dort auf einem Stuhl sitzend, wird sie den Rest des Abends verbringen. Bewaffnet mit Seifenblasenutensilien soll die Studentin für Heiterkeit sorgen. "Aber nicht zu viel, das ist schließlich eine Gothic-Lesung", erinnert der Autor.

"Küsse nie die Zeit zu früh" – mit Gedichten aus dem VI. Kapitel des neuen Lyrikbandes "Zwischengeist" beginnt Oswald Henke die Lesung

"Küsse nie die Zeit zu früh" und "Was man fühlen kann" sind die ersten Texte der Veranstaltung. Während der eine den ewigen, sinnlosen Wettlauf mit der Zeit beschreibt, thematisiert der zweite das Fühlen des eigenen Selbst. Nachdenklich stimmen diese lyrischen Gedanken bereits, doch ein erstes "Abrutschen" in Melancholie wird durch das Gerumpel der Straßenbahn verhindert. Henke setzt nach mit "Lieben lernen", das da endet mit den berühmten drei Worten "Ich liebe dich". "Nee, das ist jetzt zu kitschig", meint der Autor und schlägt das VII. Kapitel auf, in dem sich unter anderem ein "Erziehungsratgeber" befindet.

"Kinder, das Grauen auf vier bzw. zwei Extremitäten"

Lesung_OswaldHenke3 © RezianerIn dem nur scheinbaren Ratgeber, wie man sein Kind angemessen verbiegen und willenlos machen kann, steckt die pure Kritik desselben. Man muss unweigerlich an Bettina Wegners "Kinder (Sind so kleine Hände …)" denken. Mehr aus Spaß, doch mit einem skeptischen Gesichtsausdruck weist Henke daraufhin, dass es sich hierbei um Ironie handelt und keine Empfehlung darstellt.

Nach den zwei folgenden düsteren Texten, beide aus dem Fetisch:Mensch-Album "Manchmal", ist der erste Einsatz der Seifenblasen von Nöten. Zusätzlich präsentiert Oswald Henke einen Einmarschmusik-Geschenkbeutel und singende, klingende Kunstrosen. "Kann man alles kaufen", fügt er schmunzelnd hinzu. Das wirkt. Die Heiterkeit ist wieder partiell hergestellt.

Ein nächstes dunkles Kapitel wird geöffnet: "Seelenfütterungen"

Die Texte "Grauer Strand" und "Es ist Nacht" aus dem ersten Abschnitt des neuen Bandes erzählen über das Erwachsenwerden, das Enden der Kinderträume und die innere Zerrissenheit. Danach entsteht eine Stille, die nur durch Henkes Atemzüge begleitet wird.

An schließt sich das Hoffnung bringende "Narbengarten" aus seinem dritten Band. Hier ermutigt das Ich sein Gegenüber, aus dem Narbengarten, aus der ungeliebten Vergangenheit zu fliehen. Dann ist es wieder Zeit zum Durchatmen. Dieses Mal stellt der Autor seine neue Kolumne vor.

"Henke unzensiert"

Die Rubrik erscheint im Cottbusser Stadtmagazin "Hermann". Sein erster Beitrag beschäftigt sich mit der Begriffsdefinition des Artikel 1 des Grundgesetzes: "Die Würde des Menschen ist unantastbar". Henke betrachtet darin, wie Artikel 1 in der Praxis, im Leben, im Beruf befolgt wird und zieht als Vergleich das Kinderspiel "Stille Post" heran. Wie viel Wahrheit steckt noch in einer Aussage über einen Menschen, über seine Handlungen, wenn diese durch zig Münder ging?

"Herbstkinder" beendet schließlich den Ausflug ins erste Kapitel von "Zwischengeist". Mit "Schwarzer Schnee" und "Ein-Wort-Spiel" folgen Gedichte aus dem dritten, namens "Agonie", dt. Todeskampf. Das Ich im ersten Gedicht versucht, sämtlichen Lügen und Maskeraden zu entfliehen. Das zweite bildet in nur 21 Wörtern bzw. 21 Zeilen das Prinzip Leben ab. "Was war ist tot / was kommt wartet / was ist atmet …"

"Ethische Grenzgänger"

Aggression, Perspektivlosigkeit und Destruktivität bestimmen die Texte aus dem IV. Kapitel. Damit ist "Ethische Grenzgänger" eines der schwer verdaulichen des Buches. Gleich zwei Gedichte hat sich Oswald Henke für die Lesung herausgesucht. "Anomie" beschreibt eine Welt, die brennt und in der die Menschen emotional verkümmert sind. "Weckt mich" thematisiert ein Ich, das in solch einer Welt keinen Platz mehr für sich sieht und trotz der Angst vor dem Tode eben in jenem einen Ausweg sucht. "Im Wasser wartet Endlosschlaf … Jemand hier um mich zu wecken?" Mit "Maskenball der Nackten", einer Hommage an Facebook, wie Oswald Henke erklärt, geht es anschließend in die Pause. Danach wird es dunkel im Café.

Lesung_OswaldHenke2 © RezianerRot versus Blau

Blaue Leuchtstäbe werden ausgeteilt. Mit "Epilog" ("In jedem Bett ein totes Kind") baut Oswald Henke die Stimmung, die vor der Pause herrschte, wieder auf. Anschließend bringt der Pianist der Band Henke als ad-hoc-Assistent rotleuchtende Kerzen, die ein warmes Licht ausstrahlen. Die Gedichte, die darauf folgen, handeln von Sünde und Gefahr und stammen allesamt aus dem zweiten "Zwischengeist"-Kapitel. 

Aus Rot wird Blau. Aus Wärme wird Kälte. Die roten Lichter werden gegen blaue ausgetauscht. In diesem kühlen Schimmer lauscht das Publikum der Geschichte eines Ichs, das vor Hitze, Qualen und Schmerz in das Blau, in Schnee und Kälte flüchtet. Keine Qualen fühlt es mehr, als die Kälte langsam in seinen Körper kriecht. Die Schmerzen, die es am eigenen Leib, am eigenen Fleisch, erlebte, werden durch das kalte betäubende Blau erstickt. Nach diesem langen und aufwühlenden Text ist es still im Raum. Das blaue Leuchten verschwindet wieder. Henke holt sein Publikum in die Wirklichkeit zurück mit einer weiteren Kolumne.

"Henke Digital" Was ist Gothic?

Der eine oder andere wird den Artikel kennen, der nun folgen soll. In ihm thematisiert der Neue-Deutsche-Todeskunst-Mitbegründer das Aufspalten der sogenannten Gothic-Szene. Ob Batcaver, "Mittelalterhüpfer", "EBM-Fraktion", Metaler oder Darkwaver, früher habe man auf einem Floor zusammmengestanden und -getanzt. Jedem wurde sein Teil des Abends gegönnt. Heute werden durch die unterschiedlichen Themen-Floors die Szenerichtungen und damit die Szenegänger voneinander getrennt. "Da werde ich 'manisch-aggressiv'", ist das Statement des Gothic-Urgesteins, das zu einer neuen Runde Gedichte überleitet.

Kinderträume und Orangenschiffchen

In den nächsten Texten erinnert Oswald Henke an die kindliche Fantasie, die den Erwachsenen verloren geht und spricht von der "Zahnfee", die aus den Kinderzähnen die Stadt der Träume baut. Auch "Orangenschiffchen" (aus der EP "Herz") ist im Programm enthalten. Der Text beschreibt die Liebe einer Mutter zu ihrem Kind. Anschließend verteilt der Autor an die Mütter aus dem Publikum selbstgebastelte Orangenschiffchen, welche die Frauen lächelnd annehmen.

Der morbide-romantische Klassiker "Abseits des Lichtes", der von der einsamen Tänzerin in einem alten vergessenen Haus erzählt, das aufmunternde "Lebend lohnt es" und das wenig zukunftsverheißende "Liebling der Götter" beenden den offiziellen Teil des Abends. Nach zahlreichem Applaus kommt der Autor für zwei weitere Kolumnen zurück, bevor er endgültig über die Wendeltreppe entschwindet.

Der Lyrikband "Zwischengeist" erschien beim Culex-Verlag. Er umfasst 70 Texte und Gedichte auf 132 Seiten. Im VII. Kapitel befindet sich unter anderem der Text "Erziehungsratgeber".

Bei Rezianer

Rezension Band Henke: Herz
Rezension Band Henke: Seelenfütterung
Interview mit Oswald Henke: Was mich nicht interessiert, mach ich nicht"

Vielen Dank an den Culex-Verlag und Oswald Henke für den Platz auf der Gästeliste und an Gibhin für die Unterstützung !